Disruption ist ein allzu oft gebrauchtes Schlagwort, aber auf den Rivian R1S passt es. Das Auto ist in praktisch allem besser als andere Premium-SUVs. Das ist unser Urteil nach ein paar Hundert Kilometern auf der Straße und etlichen Stunden auf einem anspruchsvollen Offroad-Parcours.
Der R1S kombiniert die besten Eigenschaften eines Range Rover, einer Mercedes G-Klasse und eines Lamborghini Urus. Und dazu hat er als Elektroauto deutlich geringere Fahrt- und Wartungskosten. Das ist disruptiv.
Bildergalerie: Rivian R1S im ersten Test
Quad-Motor-Antrieb mit 614 kW
Der R1S wird zunächst in einer Quad-Motor-Konfiguration angeboten, die vom Pick-up-Schwestermodell R1T bekannt ist. Das Elektro-SUV hat damit 614 kW und ein Drehmoment von 1.241 Newtonmetern. Wie beim R1T ist für 2024 eine günstigere Dual-Motor-Version mit 447 kW und 813 Nm geplant.
Die Leistung ist eine Sache, sie effektiv auf den Boden zu bringen, eine andere. Doch der Quad-Motor-Antrieb sorgt dank Torque Vectoring immer für maximale Traktion, indem er sofort die richtige Kraft an das richtige Rad schickt.
Die Luftfederung mit aktiven Dämpfern ermöglicht eine Höhenverstellung um mehr als 15 Zentimeter. Sie war bei unserem Offroad-Fahrt durch den regengetränkten, schlammigen Boden nahe der Monticello-Rennstrecke im US-Bundesstaat New York wirklich gefordert.
Nach dieser fahrt sind wir überzeugt, dass der R1S im Gelände noch besser ist als der Pick-up R1T. Das liegt in erster Linie am kürzeren Radstand von 3,08 statt 3,45 Metern und der geringeren Länge von 5,10 statt 5,51 Metern: Der R1S ist deutlich wendiger als der R1T, was im Gelände ein großer Vorteil ist.
Fahrmodi
Mit verschiedenen Fahrmodi lassen sich Fahrwerkshöhe, Kraftverteilung, Dämpfung und Pedalabstimmung variieren. Im Gelände hatten wir meist den Standard-Offroad-Modus namens Off Road All-Terrain aktiviert. Darüber hinaus gibt es vier weitere Off-Road-Fahrmodi: Rock Crawl, Rally, Drift und Soft Sand.
Der serienmäßige Luftkompressor ermöglicht es, unterwegs die Reifen aufzupumpen. Der niedrige Schwerpunkt durch den großen Akku ist ein Vorteil, den die meisten Elektroautos haben, zudem hat der R1S gut abgestimmte Federn und Dämpfer.
Auf der Straße fühlt sich der R1S überhaupt nicht wie ein großes Dreitonne-SUV an, sondern eher wie eine Sportlimousine. Der All- Purpose-Modus ist perfekt für den Alltag. Damit wählt man die normale Fahrwerkshöhe, eine weiche Abstimmung, eine idiotensichere ESP-Einstellung sowie eine moderate Rekuperation. Für ein steiferes Fahrwerk und die niedrigste Fahrwerkshöhe sorgt der Sportmodus. Zudem gelangt dann mehr Kraft an die Hinterräder und das ESP greift nicht mehr so stark ein.
Wenn man im Sportmodus das Gas durchdrückt, beschleunigt die R1S in etwa drei Sekunden auf 100 km/h. Das ist ungefähr die gleiche Zeit, die der 230.000 Dollar teure Lamborghini Urus braucht.
Batterie, Reichweite und Aufladen
Der R1S verfügt über den gleichen 135-kWh-Akku wie der R1T. Dabei handelt es sich um die Bruttokapazität. Die nutzbare Speicherkapazität verrät Rivian nicht, doch nach einem Reichweitentest mit dem R1T von InsideEVs USA liegt sie bei etwa 125 kWh. Mit dieser Batterie beträgt die EPA-Reichweite 509 km.
In Zukunft soll es den R1S auch mit einer Bruttokapazität von 105 kWh (für schatzungsweise geschätzte 420 km EPA-Reichweite) geben sowie mit einem 180-kWh-Paket (für rund 640 EPA-Kilometer).
Der R1S besitzt einen 48-Ampere-Bordlader. An einer 240-Volt-Steckdose kann er in den USA im Level- 2-Modus (also einphasig) mit bis zu 11,5 kW geladen werden. An einer 48-Ampere-Ladestation soll pro Stunde Strom für bis zu 40 km nachgeladen werden. Eine solche Ladestation für die heimische Garage will Rivian demnächst anbieten.
Alle Rivian-Modelle werden serienmäßig mit 32-Ampere-Ladekabel für zwei Spannungen geliefert. An einer 240-Volt-Stromquelle sollen damit pro Stunde Strom für etwa 24 km nachgeladen werden.
Der R1S verwendet den CCS (Combo)-Stecker für das Schnellladen mit Gleichstrom; damit beträgt die maximale Ladeleistung 220 kW. Die Ladeeigenschaften sollten die gleichen sein wie beim R1T. Der DC-Schnellladetest von InsideEVs USA mit dem R1T ergab eine Ladezeit von etwa 40 Minuten (10 bis 80 Prozent), an einem 150-kW-Lader dauert es etwa 5 Minuten länger. Wenn im Navigationssystem ein DC-Schnelllader als Ziel einprogrammiert wird, wird die Batterie automatisch durch Heizen oder Kühlen vorkonditioniert, damit der Ladevorgang optimal abläuft.
Rivian baut ein eigenes Schnelllader-Netz auf, das Rivian Adventure Network. Bis 2023 sollen 3.500 DC-Lader an wichtigen Fahrtrouten und beliebten Offroad-Zielen entstehen. Ob die Lader irgendwann auch für Fremdmarken nutzbar sein wird, ist noch nicht entschieden.
Für alle Marken benutzbar sind die Rivian Waypoint Charger. Diese Level-2-Lader mit 240 Volt befinden sich in der Nähe von Einkaufszentren, Restaurants, Hotels, Parks, Wanderwegen und anderen beliebten Zielen. Derzeit werden mehr als 10.000 dieser Waypoint Charger in den USA und Kanada installiert.
Innenraum: Geräumig und komfortabel
Im Innenraum gibt es einen 15,6-Zoll-Touchscreen und ein 12,3-Zoll-Instrumentendisplay. Der große Touchscreen ist hell, klar und sehr reaktionsschnell. Über ihn werden Navigation, Klimatisierung, Fahrmodi und Medien gesteuert. Apropos Medien: Der R1S unterstützt weder über Apple Carplay noch Android Auto. Rivian will die Technik offenbar nicht in das selbst programmierte Betriebssystem integrieren – ein Fehler.
Die Rundumsicht ist für ein Fahrzeug dieser Größe und Form eher mittelmäßig, aber zehn Außenkameras helfen, den Überblick zu behalten. Die bequemen, gut stützenden Sitze lassen sich beheizen und kühlen und haben stets vegane Lederoberflächen. Ein beheizbares Lenkrad ist ebenfalls Serie. Der R1S ist ausschließlich als Siebensitzer mit drei Sitzreihen erhältlich; frühere Pläne, auch einen Fünfsitzer anzubieten, hat der Hersteller aufgegeben.
Die Sitze in der zweiten Reihe lassen sich im Verhältnis 40:20:40 umklappen, die dritte Reihe ist im Verhältnis 50:50 geteilt. Wenn beide hinteren Reihen umgeklappt sind, ist Platz für eine Luftmatratze für das Übernachten im Auto. Dabei ermöglicht das Panoramaglasdach den Blick auf die Sterne.
Assistenzsysteme
Zahlreiche Assistenzsysteme sind Serie, darunter Abstandstempomat, Spurhalteassistent, . Querverkehrswarner, Parkassistent und Anhängerassistent. Wie Super Cruise von General Motors und BlueCruise von Ford ermöglicht der Rivian Highway Assist das teilautomatische Fahren auf bestimmten Autobahnen.
Bei unseren Fahrten mit dem R1T pendelt das Auto mit dem System noch innerhalb der Highway-Spur hin und her. Doch inzwischen wurde es verbessert und funktioniert nun beim R1S sehr gut: Das Auto blieb die meiste Zeit in der Mitte der Spur.
Fazit: Noch besser als der R1T
Der Rivian R1T schnitt bei unserem Test in den Bergen von Colorado so gut ab, dass wir uns nur schwer vorstellen konnten, dass der R1S uns noch besser gefallen würde. Doch genau das war der Fall.
Sowohl auf der Straße als auch im Gelände ist der R1S etwas besser, mit einer Ausnahme: Der R1T kann fünf Tonnen schwere Anhänger ziehen, der R1S "nur" 3,5 Tonnen schwere. Im Gelände ist der R1S durch den viel kürzeren Radstand im Vorteil. Zudem ist der hintere Böschungswinkel bei R1S größer (34,3 statt 30 Grad), genauso wie der Rampenwinkel (29,6 statt 26,4 Grad).
Der stolze Basispreis von 84.500 Dollar (umgerechnet rund 83.500 Euro) für die Quad-Motor-Version mit 135-kWh-Batterie ist für das Gebotene sehr günstig. Alternativ kann man auf die günstigere Two-Motor-Version mit 135-kWh-Akku (78.500 Dollar) oder mit 105-kWh-Batterie (72.500 Dollar) warten.
Der R1S ist ein besseres Allround-Fahrzeug als die konventionell angetriebenen SUVs auf dem Markt – auch wenn diese mehr als doppelt so viel kosten wie der Rivian. Offen bleibt nur die Frage, ob Rivian große Stückzahlen bauen kann.
Der amerikanische Originaltext wurde gekürzt und umformuliert.
Rivian R1S Launch Edition