Seit nicht einmal 30 Jahren sind Fahrzeuge von Kia in Europa erhältlich und wenn wir die Anfänge der Marke mit dem Sephia oder dem Pride betrachten, waren die Aussichten für diesen hierzulande gänzlich unbekannten Hersteller nicht gerade rosig. Warum sollte man schon einen Badge-Engineering-Südkoreaner kaufen, wenn der hiesige Markt eigentlich keine Wünsche offen ließ?!

Doch es hat nicht einmal drei Jahrzehnte gedauert und gerade im Bereich der Elektromobilität muss die Frage mittlerweile andersherum gestellt werden: Warum sollte man eigentlich was anderes als einen Südkoreaner auf E-GMP-Plattform kaufen?! Ja ... warum eigentlich? Diese Frage klärt unsere Testfahrt mit dem Kia EV6 RWD Long Range ...

Kia EV6 (2022) im Test
Kia EV6 (2022) im Test
Kia EV6 (2022) im Test

Als Redakteur im Automobilbereich ist man es ja gewohnt, neue und teils noch sehr selten im Straßenverkehr anzutreffende Fahrzeuge unter dem Hintern zu haben. Trotzdem kommt es nur ziemlich selten vor, dass man beispielsweise auf dem Supermarktparkplatz auf den fahrbaren Untersatz angesprochen wird, in den man gerade ein- oder aus dem man gerade aussteigt. Mit dem EV6 gab es hingegen keinen einzigen Ausflug zum Lebensmittel-Shopping, wo wir nicht irgendwie in ein kurzes Gespräch verwickelt wurden.

KN? Der sieht richtig gut aus ...

Die häufigste und erste Frage war dabei: "Was ist das denn für eine Marke? KN? Was soll das bedeuten?" Stimmt, das neue Logo. Da fällt selbst die Findung nach dem Hersteller schwer. Anschließend folgte aber meist schon ein Kompliment: "Der sieht richtig gut aus." Oder: "Das ist endlich mal was anderes." Da stimmten wir dann vorbehaltlos zu. Ohne Widerworte.

Und das liegt nicht nur daran, dass der Testwagen in der GT-Line mit seinen schwarzen Akzenten auftrumpft oder die Lackierung in Moonscape Matt in Kombination mit der scharfen LED-Beleuchtung für einen gewissen Zukunftsflair sorgt. Er sieht schlichtweg gut aus. Punkt.

Allerdings ist er mit seinen Abmessungen (die Details dazu gibt es am unteren Ende dieses Artikels aufgeführt) ein recht großer Teilnehmer im Straßenverkehr. Auf den Fotos sieht er kleiner aus, aber in Wirklichkeit ist er eben ein Konkurrent des VW ID.4 oder eines Ford Mustang Mach-E. Dazu ist er recht hoch und verfügt über einen gewaltigen Radstand. All diese Punkte sorgen dafür, dass man selbst als 1,90 Meter großer Mensch auf allen Plätzen genügend Kopffreiheit erwarten kann. Ja, sogar unter dem flach abfallenden Dach über den Sitzen im Fond. Luftig.

Kia EV6 (2022) im Test

Genauso luftig wie das gesamte Raumgefühl wirkt das Arrangement der übrig gebliebenen Knöpfe und Drehregler der Fahrzeugfunktionen, die nicht in das Infotainment-System aus zwei 12,3-Zoll-Bildschirmen mit einer leichten Wölbung integriert wurden. Es bleibt also stets die Funktionalität im Vordergrund. Wirklich lange suchen wir nie in den umfangreichen Menüs für bestimmte Einstellungswünsche.

Eastereggs oder fragwürdig-witzige Features wie beispielsweise bei Tesla suchen wir hingegen vergeblich. So können wir also keine Videospiele spielen oder ein Lagerfeuer anmachen. Obwohl ... akustisch gönnt Kia uns einen Kamin. Aber das ist nicht neu.

Kia EV6 (2022) im Test
Kia EV6 (2022) im Test

Wie schon eingangs erwähnt, haben wir uns für die EV6-Version entschieden, die bereits den größeren 77,4-kWh-Akku und mit 229 PS und 350 Nm etwas mehr Leistung hat, aber immer noch auf den Motor an der Vorderachse und somit auf den Allradantrieb verzichtet. Dadurch steigt die theoretische Reichweite mit 19-Zoll-Bereifung (wir haben durch die GT-Line jedoch 20-Zöller montiert) auf 528 km. Realistisch sind jedoch "nur" bis zu 400 km. Denn unter 20 kWh/100km werden Sie den Verbrauch nicht drücken können.

Schnell und trotzdem nicht nervös

Auf der Straße ist der EV6 ein Charmeur. Er läuft geschmeidig und leise. Man muss die fast völlig geräuschfreie und absolut entspannende Fortbewegung einfach lieben. Im Gegensatz zu seinem Technik-Bruder – dem Hyundai Ioniq 5 – bewältigt der Kia EV6 kurvige Straßen mit mehr Gelassenheit. Wenn man will aber auch sportlich ambitionierter. Er hat ein wunderbares Lenkgefühl – perfekt gewichtet, schnell, nicht nervös. Und im Eco- und Normal-Modus auch noch gelassen.

Kia EV6 (2022) im Test

Der Sport-Modus stellt alle Systeme etwas schärfer. Natürlich sollten Sie jetzt keinen Audi e-tron GT erwarten, aber für ambitionierte Hobby-Sportler wird trotzdem was geboten. Und dabei wirkt der RWD-Kia durch den fehlenden Frontmotor und die damit einhergehende Gewichtsreduzierung leichtfüßiger als sein Kollege mit AWD und ein paar Pfund mehr auf den Rippen. Spielerisch lassen sich zwei Tonnen aber nie wirklich bewegen.

Laden mit Rekordgeschwindigkeit

Vor längeren Strecken müssen Sie übrigens keine Angst haben. Die Ladegeschwindigkeiten (bereits in unserem ersten Test des Kia EV6 ausreichend beschrieben), die E-GMP mit der 800-Volt-Technik ermöglicht, sind auf Mercedes-EQS-Niveau. Und das ist eigentlich etwas traurig, denn die Entspannungsstellungen der bequemen Vordersitze müssen an Schnellladern nicht wirklich lange in Anspruch genommen werden.

Kia EV6 (2022) im Test
Kia EV6 (2022) im Test

Und jetzt kommt er, der Kritikpunkt: Wir haben uns nämlich sehr viel Mühe gegeben, eine negative Eigenschaft am EV6 zu finden. Es betrifft einen Fahrassistenten. Genauer gesagt ... den Spurhalteassistent. Er arbeitet eher sporadisch, nicht wirklich zuverlässig und das Vertrauen in das System schwindet nach wenigen Kilometern. Gerade bei einem Long Range-Modell für lange Strecken nicht so schön. Ein weiterer Punkt wäre das sehr helle Head-up-Display gewesen, aber hier haben wir doch noch die Strahlkraft in der Windschutzscheibe verändern können.

Preislich liegen wir bei unter 50.000 Euro. Viel Geld für einen Kia, ja. Und mit dem GT-Line-Paket kommen wir sogar auf rund 55.000 Euro. Aber für viel Geld bekommt man auch viel Auto. Im Vergleich mit der hauseigenen Konkurrenz liegen wir da übrigens auf einem ähnlichen Niveau. Aber auch sonst ist der Preis für so viel herausragende Technik irgendwie gerechtfertigt. Nach Abzug der aktuellen Prämien und Förderungen sowieso. 

Fazit: 9/10 Punkte

Chapeau, Kia! Mehr muss man dazu eigentlich nicht sagen. Wenn es ein E-Auto in dieser Klasse sein soll, kommen Sie an den Koreanern nicht mehr vorbei. Beim EV6 stimmt demnach eigentlich alles und wenn wir die Kleinigkeit mit dem Spurhalteassistent nicht entdeckt hätten, hätten wir auch die volle Punktzahl vergeben.

Doch gerade bei einem Long Range-Modell müsste man auf langen Strecken eher mal entlastet werden. Und zwar vertrauensvoll. Bei dem kommenden GT-Modell mit 585 PS wird uns dieser Umstand wahrscheinlich nicht mehr so sehr stören und dann könnte dieser Performance-EV6 ein vielversprechender Anwärter auf die 10-Punkte-Wertung werden.

Bildergalerie: Kia EV6 (2022) im Test

Kia EV6 RWD 168 kW Long Range GT-Line

Motor Elektromotor hinten (permanentmagneterregte Synchronmaschine)
Getriebeart Reduktionsgetriebe
Antrieb Hinterradantrieb
Leistung 168 kW (229 PS)
Max. Drehmoment 350 Nm
Beschleunigung 0-100 km/h 7,3 s
Höchstgeschwindigkeit 185 km/h
Elektrische Reichweite 528 km (19 Zoll & WLTP)
Ladeanschluss Typ 2 // CCS
Aufladezeit Haushaltssteckdose (2,3 kW): 10 – 100 % in 32h 45min // 350-kW-Schnellader: 10 – 80 % in 18min
Verbrauch 17,2 kWh/100kw (20 Zoll & WLTP) // 16,5 kWh/100km (19 Zoll & WLTP) // Testverbrauch: 23,2 kWh/100km
Länge 4.695 mm
Breite 1.890 mm
Höhe 1.550 mm
Leergewicht 1.985 – 2.085 kg
Zuladung 440 kg
Anhängelast 1.600 kg (gebremst bei 12% Steigung)
Kofferraumvolumen 490 – 1.300 l
Basispreis 48.990 Euro
Preis der Testversion 54.990 Euro (GT-Line)