Wenn man sich eigentlich nur schnell etwas von seinem Lieblings-China-Imbiss holen will und man dann in ein 30-minütiges Gespräch über Autos mit dem Inhaber verwickelt wird, fährt man wahrscheinlich keinen VW Golf. Und wenn man am Schnelllader auf einem Supermarktparkplatz von interessierten Menschen mit Einkaufswagen belagert wird, lädt man gerade auch nicht unbedingt einen VW ID.3. Was ist da also passiert? Der Nio ET7 ist passiert.

Was ist das?

Gute Frage. Ehrlich. Denn hier handelt es sich wahrscheinlich um ein Auto, das Sie vermutlich noch nie gesehen haben. Hergestellt von einer Marke, von der Sie wohl auch noch nie gehört haben. Deshalb holen wir mal etwas weiter aus als sonst ...

Hinter Nio verbirgt sich ein Start-up aus Shanghai, bei dem bereits neun Jahre nach der Gründung rund 15.000 Menschen arbeiten und bei dem pro Jahr mittlerweile sechsstellige Stückzahlen an Fahrzeugen produziert werden. Außerdem ist das Unternehmen an der Börse und mit dem EP9 hat man ein elektrisches Hypercar gebaut, das eine Rekordzeit auf der Nordschleife des Nürburgrings herausfahren konnte. Läuft. Nein. Rennt.

Nio ET7 (2023) im Test
Nio ET7 (2023) im Test
Nio ET7 (2023) im Test

Und seit Oktober 2022 versucht man es mit der Oberklasse-Limousine ET7 auch bei uns in Deutschland, Marktanteile zu ergattern. Im Januar 2023 folgte der EL7 (ein 4,91 Meter langes SUV) und der unter dem ET7 angesiedelte ET5 steht als Limousine seit März in den Showrooms sowie als Kombi schon in den Startlöchern. Das ist es also, dieses chinesische Tempo beim Vorstoß in den Elektromobilitätsmarkt von Europa.

Sollten deutsche Autobauer jetzt Angst bekommen?

Besser wärs. Aber wenn in Wolfsburg, Stuttgart, München, Ingolstadt, Rüsselsheim oder Köln seit der Veröffentlichung der neuesten Verkaufszahlen von Tesla nicht sowieso schon eine gewisse Grundpanik herrschen sollte, dann müssten spätestens beim Blick nach Fernost und Nio die Alarmglocken angehen.

Denn während der US-amerikanische E-Autobauer noch fast 20 Jahre von der Unternehmensgründung bis zu nennenswerten Verkaufszahlen mit qualitativ ansprechenden Produkten benötigte, sind Hersteller wie Nio auf dem besten Weg, diesen Coup in einem Drittel der Zeit zu schaffen. Zumindest ist das unser Eindruck nach 14 Tagen mit dem ET7.

Was zeichnet die Limousine denn aus?

Mit 5,10 Metern Länge nimmt der ET7 gleich die Oberklasse ins Visier. Konkurrenz kommt beispielsweise mit dem Model S von Tesla oder mit dem EQE von Mercedes-Benz. Harter Tobak für ein junges Unternehmen aus China. Und deshalb wird aufgetrumpft. Mit Leistung und serienmäßigem Schnickschnack bis unter die obere Dachlinie – und darüber hinaus.

Nio ET7 (2023) im Test

In Zahlen: Zwei Elektromotoren sorgen für 480 kW (653 PS) und 850 Nm Drehmoment. In 3,8 Sekunden geht der Allradler von 0 auf 100 km/h, abgeregelt wird mehr oder minder konsequent bei 200 km/h. Der cW-Wert liegt bei traumhaften 0.208. Die Reichweite unseres Testwagens beziffert sich mit der 100-kWh-Batterie nach WLTP-Zyklus auf 580 km.

Außerdem dürften Ihnen die knubbeligen Karosserie-Erweiterungen oberhalb der Windschutzscheibe aufgefallen sein, die das sowieso schon interessante Design noch ein wenig spannender machen. Die drei Buckel beherbergen Kameras sowie ein Lidar-System und sie sind ein über die Dinge schauender (kleiner) Teil einer regelrechten Armee von Sensoren. 33 Stück sind es insgesamt. Autonomes Fahren nach Level 3-Standard wäre also theoretisch möglich. Bis 60 km/h. Wenn es gesetzlich erlaubt wäre.

Der erste Fahreindruck vom 480-kW-Bomber aus China?

Er ist schnell. Sehr schnell. Auf der Geraden und aus dem Stand weg. Aber das war irgendwo vorhersehbar und deshalb gehen wir auch nicht näher darauf ein. Dazu ist der ET7 auch noch ziemlich komfortabel. Lange Bodenwellen auf Autobahnen werden von dem Luftfahrwerk sehr sauber glattgebügelt. Und die Lenkung? Die sorgt für die ersten negativen Gefühle. Schon beim starken Beschleunigen fällt über die Lenkung nämlich auf, dass die Vorderachse des ET7 etwas überfordert mit der Leistung zu sein scheint. Es zerrt ein wenig im Volant, wenn die Räder nicht ganz gerade stehen und dazu gesellt sich hin und wieder ein genervter Brummsound im System.

Nio ET7 (2023) im Test
Nio ET7 (2023) im Test

Ebenfalls leichte Probleme bekommt der Nio (oder das Rückenmark und die Ohren der Passagiere), wenn Schlaglöcher oder unerwartete Querfugen das Fahrwerk belästigen. Hier federt der ET7 (egal ob im Komfort-, Eco-, Sport- oder Sport+-Modus) ziemlich straff und polternd drüber. Das geht sogar so weit, dass unser Testwagen mit gerade einmal knapp 11.000 Kilometern auf der Uhr unlokalisierbar im Fond ein dezentes Klappern von sich gibt. Nicht sehr Premium. Und auch nicht sehr Oberklasse. Entgegenwirken könnte man eventuell, indem man auf die 21-Zoll-Felgen verzichtet und die standardmäßigen 20 Zöller mit etwas mehr Gummi ums Leichtmetall behält.

Und schnelle Kurven? Geht, aber es gibt Modelle in dieser Klasse, die das deutlich besser können. Wenn man aber genügend Mut hat, die Straße breit genug ist und die Kurvenradien nicht allzu eng sind, hat man trotzdem Spaß. Sind diese Parameter nicht gegeben, fordern das Gewicht von 2,4 Tonnen, die im Grenzbereich etwas nervöse Lenkung und das auf die Langstrecke ausgelegte Fahrwerk einfach ihren Tribut. Und dann wäre da noch die automatische und ziemlich ruppige Spurkorrektur, die wir auch nach längerem Abtauchen in undurchsichtigen Infotainment-Menüs einfach nicht nachhaltig deaktiviert bekommen. 

Was gefällt uns besonders gut?

Trotz der kleinen Ungereimtheiten fährt der ET7 aber erschreckend gut und sehr komfortabel. So wird es selbst bei hohen Geschwindigkeiten nicht laut oder gar ungemütlich. Ein Tesla Model S von 2013 war dagegen eine regelrechte Katastrophe.

Nio ET7 (2023) im Test

Und genauso setzt sich der positive Eindruck im gesamten Innenraum fort. Die Platzverhältnisse sind auf allen Plätzen grandios (nur der Kofferraum mit seiner kleinen Klappe und dem tiefen Laderaum ist etwas unpraktisch), die Materialien sind obere Liga und die Verarbeitung hat so gar nichts mehr mit den China-Kisten von vor noch ein paar Jahren zu tun. Edel.

Nio ET7 (2023) im Test
Nio ET7 (2023) im Test

Ebenfalls stark ist die Serienausstattung. Bis auf Apple Carplay oder Android Auto fehlt es uns an nichts. Das Highlight? Die Sitze (und zwar vorne sowie das äußere Gestühl im Fond) werden geheizt, gekühlt und massieren auf Wunsch.

Wo sollte man doch genau hinsehen?

Am besten trotzdem noch bei recht vielen Dingen. Vor allem vor dem Hintergrund der Positionierung im Oberklasse-Premiumbereich. Der Teufel steckt nämlich eben doch noch im Detail – um endlich unsere Subheadline des Artikels selbst zu zitieren.

Da wäre zum einen Nomi. Die als rundes Tamagotchi auf dem Armaturenbrett auch physisch vorhandene Sprachsteuerung. Sie ist witzig, zuvorkommend, muss aber noch viel lernen, um wirklich solide assistieren zu können. Also bleibt nur die Bedienung über das Touchdisplay in der Mittelkonsole. Und da muss man sich damit abfinden, dass fast alles über dieses Infotainment-System gesteuert werden muss. Sogar die N-Getriebestellung oder die elektrische Klappe für den Ladeanschluss sind nur darüber zu erreichen. Und diese Tatsache macht die gesamte Menüführung ... Sie werden es ahnen ... sehr unübersichtlich.

Nio ET7 (2023) im Test

Der größte Kritikpunkt dürfte allerdings die Ladegeschwindigkeit sein. 11 kW am AC-Stecker  sind im Jahr 2023 zwar noch okay, aber maximal 125 kW an einer DC-Säule sind eines Oberklasse-Autos nicht würdig. In der Praxis erreichen wir bei einem auf 20 % SOC entladenen Akku dazu nur 115 kW als Peak, der relativ schnell in den zweistelligen Bereich abfällt. Heißt: 40 Minuten warten bis 80 %. Schade. Man könnte jetzt natürlich damit argumentieren, dass Nio der einzige Hersteller ist, der Akku-Wechselstationen betreibt, aber das wäre bei aktuell nur drei Standorten in Deutschland doch etwas weit hergeholt.

Wie viel Geld muss investiert werden?

69.900 Euro sind es, wenn Sie das Fahrzeug ohne Batterie ordern. Dann kann man (anders als bei der etablierten Premium-Konkurrenz) die Akkus mieten. 169 Euro fallen monatlich für das 75-kWh-Pack an, 289 Euro sind es für die getestete Version mit 100 kWh. Kaufen kann man die Stromspeicher aber ebenfalls. Für 12.000 (75 kWh) oder 21.000 Euro (100 kWh). Mit dabei ist dann eine entsprechende Garantie von 8 Jahren oder 160.000 km.

Unser Testwagen mit dem großen Akku preist sich also bei 90.900 Euro ein. Dann summieren sich noch die optionalen 21-Zoll-Felgen auf die Gesamtrechnung und wir landen bei 93.400 Euro. Volle Hütte. Fertig. Hier macht es uns Nio einfach. Bis auf die erwähnten Räder und eine bläuliche Lackierung "Southern Star" (nicht an unserem Modell) ist alles andere ohne Aufpreis ab Werk verbaut. So hat die lange Limousine mit dem komplizierten Infotainment-System die wohl kürzeste und einfachste Preisliste überhaupt.

Und jetzt noch ein flotter Blick in Richtung EQE und Model S gefällig? Machen wir es kurz und schmerzlos: Mit der Ausstattung und der Leistung wird man weder bei Mercedes-Benz noch bei Tesla ein entsprechendes Modell für unter 100.000 Euro finden. Keine Pointe.

Fazit

Für ein neues Auto-Start-up aus China ist der ET7 ein überaus gelungenes Erstlingswerk für den deutschen Markt. Die verwöhnte Oberklassen-Kundschaft mit günstigen Preisen zu einem Nio-Händler zu locken, dürfte aber ziemlich schwierig werden. Vor allem weil dieses Klientel in diesem Segment einen gewissen Perfektionismus und eine gute Portion Markenprestige verlangt. Beides fehlt dieser Limousine noch. Wobei die Betonung eindeutig auf "noch" liegt.

Als Halo-Car und prunkvolles Anschauungsobjekt taugt der ET7 aber mit Sicherheit. Und sobald die Mittelklasse-Modelle ET5 und ET5 Touring erst einmal in Deutschland angekommen sind, lässt sich die deutlich größere Gruppe der preissensiblen Menschen vielleicht eher von chinesischen Premium-Fahrzeugen überzeugen. Die Zukunft wird es zeigen. Aber diese Zukunft ist nach fernöstlichem Tempo quasi auch schon morgen.

Bildergalerie: Nio ET7 (2023) im Test

Nio ET7 100 kWh (2023)

Motor 1 E-Motor pro Achse (vorne ASM mit 180 kW, hinten PSM mit 300 KW)
Leistung 480 kW (653 PS)
Max. Drehmoment 850 Nm
Getriebeart 1-Gang-Automatikgetriebe
Beschleunigung 0-100 km/h 3,8 s (im Sport+-Modus)
Höchstgeschwindigkeit 200 km/h
Antrieb Allradantrieb
Verbrauch 19,8 kWh/100km (WLTP) / 21,2 kWh/100km (Testverbrauch)
Elektrische Reichweite 580 km (WLTP) / ca. 450 km (Testreichweite im Sommer)
Ladeanschluss 11 kW AC / 125 kW DC
Aufladezeit 40 min (10 – 80%)
Batterie 100 kWh (ternärer Lithium-Ionen-Akku)
Länge 5.101 mm
Breite 1.987 mm (mit eingeklappten Spiegeln)
Höhe 1.509 mm
Leergewicht 2.379 kg
Zuladung 521 kg
Anhängelast 2.000 kg (gebremst bei 12% Steigung)
Kofferraumvolumen 363 l
Anzahl der Sitze 5
Basispreis 69.900 Euro (ohne Batterie)
Preis der Testversion 90.900 Euro (inkl. 100 kWh-Batterie)
Preis des Testwagens 93.400 Euro (optional: 21-Zoll-Felgen)